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Über die Lust zu schreiben

Es gibt nur wenige Tätigkeiten, die einen Menschen in die Lage versetzen, mit verschwindend geringem materiellen Aufwand eine eigene Welt zu schaffen. Schreiben ist mehr als zu Papier gebrachte Phantasie: Es kann zu tiefer Befriedigung und Glück führen, häufig auch zur Klarheit der Gedanken, zu neuen Erkenntnissen und Perspektiven. Es beeinflusst das eigene Leben. Studien zufolge schreiben viele Menschen. Doch häufig bleiben die Werke unvollendet, landen in der Schublade und wandern oft – ungelesen – in den Papierkorb, wenn sie der Schreiber als nunmehr peinlich empfundene Zeugnisse vergangener Lebensphasen begreift.

Abgesehen von den Schriftstücken, die – wie Tagebücher – nicht zur Veröffentlichung bestimmt sind, träumen viele vom Schreiben, dessen Ergebnis nicht verborgen bleiben soll: Ein Buch soll es werden. So erging es auch mir. Also griff ich zu Papier und Stift, verzog mich in eine ruhige Ecke – und dann?  - Schreiben ist einsam, sagen nicht wenige Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Die begeisternde und motivierende Idee, einen Roman zu schreiben, der die Welt bewegen wird, weicht der nüchternen Erkenntnis, in mühsamer Kleinarbeit die Geschichte entwickeln, Personen zeichnen, Atmosphäre, Spannung schaffen und Szenen sprachlich gestalten zu müssen. Plötzlich merkt man, dass einem Worte fehlen. An dieser Stelle kommen die ersten grundsätzlichen Fragen:

  • Schreibe ich für mich oder für den Leser?
  • Ist entscheidend, was die Leser mögen werden?
  • Schiele ich als Autor nach erfolgreichen Vorbildern?
  • Ist der wirtschaftliche Erfolg entscheidend, also die Schaffung eines Produkts, das einem möglicherweise nicht selbst gefallen, aber die Masse ansprechen wird?
  • Oder schreibe ich, was ich gern selber lesen würde?
  • Wage ich sogar, etwas von mir preiszugeben, womit ich das Risiko eingehe, nicht nur ein Buch, sondern meine Person der Kritik auszusetzen?

Man sollte diesen Gedanken zu Beginn nicht zu viel Raum geben. Schreiben macht Freude, wenn man sich mit dem Geschriebenen identifizieren kann. So gesehen schreibt man mit aller Sicherheit auch für sich selbst.

Wer schreibt, der bleibt, sagt ein holpriges Sprichwort, das mehr von dem bemühten Reim als von seinem Wahrheitsgehalt lebt. Wer schreibt, bleibt nicht zwingend. Man verewigt sich nicht, reiht sich nicht automatisch in die Reihe der Autoren ein, deren Werke auch Generationen nach uns noch lesen wollen (oder vielleicht in der Schule lesen müssen). Weg mit diesen Gedanken!

Als mein erster Roman ‚Karrieresprung‛ entstand, habe ich weiterführende Gedanken um die Fragen, warum und für wen ich schreibe, nicht gehabt. In meinem Kopf war nach und nach eine Geschichte entstanden, die ich interessant fand. Die Handlung dreht sich um den (fiktiven) Anwalt Stephan Knobel, der als schüchterner Neuling in einer größeren Kanzlei in seinen Beruf findet, eher zufällig mit dem aussichtslos scheinenden Fall des bedeutendsten Mandanten dieser Kanzlei betraut wird und trotz Scheiterns in diesem und weiteren Fällen dieses Mandanten eine wundersame Karriere beginnt. Gerade diese beruflichen Niederlagen begründen den deshalb umso rätselhafteren kometenhaften Aufstieg des Junganwalts. Es wird klar, dass die steile schnelle Karriere ihren Preis hat: Stephan Knobel profitiert von unlauteren Machenschaften seines Mandanten. Mehr sei hier nicht verraten.

Die Geschichte ist erfunden. Die Empfindungen des Berufsneulings Stephan Knobel habe ich aus meinen eigenen Erinnerungen und Erfahrungen wiedergegeben, und der Kern des Romans dreht sich um in der Realität immer wieder aktuelle Fragen:

  • Darf der Anwalt gegenüber seinem Mandanten blind sein?
  • Wie begegnet er der Gefahr, das bloße Werkzeug dessen Interessen zu sein?

Es war kein mühsames Schreiben, sondern ein lustvolles Zusammensetzen einzelner Bausteine und Details, die sich nach und nach entwickelten und verfeinerten, je länger ich mich mit dem Stoff befasste. Die handelnden Personen sind ebenfalls erfunden. Der Name Knobel stammt im Übrigen nicht von „knobeln“ oder „ausknobeln“, sondern schlicht von meiner damaligen Anwaltskollegin Sonja Knobel in einer Essener Sozietät. Ich wollte für die Hauptfiguren einprägsame und kurze Namen, also auch für Stephans Partnerin Marie, die ihn seit dem ersten Roman begleitet und die Fälle mit ihm löst. Er ist der manchmal etwas nüchterne Jurist, sie symbolisiert den quirligen und oft quer denkenden gesunden Menschenverstand und damit in gewisser Weise den unbefangenen Leser, der wie Marie auf die Dinge schaut und eigene Schlussfolgerungen zieht.

‚Karrieresprung‛ wurde, wie alle weiteren Romane auch, überwiegend nachts geschrieben. Wenn es draußen ruhig ist, kein Tagesgeschäft und kein Anruf stören, kehrt diese sinnliche Ruhe ein, in der plötzlich die Gedanken sprudeln und die Lust am Formulieren geweckt ist. Es machte Freude, den Handlungsstrang zwingend und vielleicht auch zu einem auch bitteren Ende zu führen. Schreiben lässt alle Freiheiten und jede Idee geschriebene Wirklichkeit werden – und reizt vielleicht gerade aus diesem Grunde, konsequent zu sein und einer Spur zu folgen, die die Handlung nach vorn treibt. Schreiben schärft das eigene Denken! Der rote Faden gerät nicht aus dem Blick. Schreiben gelingt, wenn es ohne Druck erfolgt!

‚Karrieresprung‛ war schließlich schneller fertig als gedacht. 105 einzeilig beschriebene DIN A 4-Seiten waren es geworden. Ich war mit der Geschichte glücklich, habe sie mehrfach Korrektur gelesen und an einigen Stellen überarbeitet. Sie gefiel mir – auch noch nach Wochen und in allen Stimmungslagen. Jetzt erst reifte der Gedanke, sie zu veröffentlichen – und gleichsam naiv dachte ich, dass dieser Roman nun die Welt interessieren musste. Ich schrieb in einer Dortmunder Buchhandlung aus dort ausliegenden Büchern die Verlagsadressen heraus und sandte meinen Roman, sorgfältig kopiert, an etwa 20 Verlage.

Noch heute ist mir in Erinnerung, als ich an der Dortmunder Hauptpost die adressierten Päckchen über den Schalter schob. Die Angestellte hinter der Theke studierte die Adressen, musterte mich mit weichem Blick über ihre Lesebrille hinweg und fragte freundlich lauernd: „Das ist wohl ein Buch?“

Noch bevor ich antworten konnte, war auch die Neugier der hinter mir stehenden Kunden geweckt. Da stand ich nun mit meinen 20 Päckchen in plötzlicher Stille.

„Was ist es denn?“, fragte die Frau weiter. „Doch nicht etwa ein Roman?“

„Doch, ein Roman“, antwortete ich etwas verlegen und sofort kam die Rückfrage:

„Ein Liebesroman?“ Jetzt lächelte sie.

„Nein, kein Liebesroman“, antwortete ich steif.

„Sondern …?“, fragte sie erstaunt. Mit ihr lauschte die Schlange. – Ja, was hatte ich denn überhaupt geschrieben? Welches Genre? Welches Thema? Mir fielen keine Schlagworte ein. Es ging doch um so viel in diesem Roman! Plötzlich haderte ich. Wer sollte sich für ein Buch interessieren, dessen Inhalt ich nicht mit wenigen Worten skizzieren konnte?

„Es ist wohl komplizierter?“, half sie.

„Ein Gesellschaftsroman“, erwiderte ich schließlich.

„Ach so“. Sie nickte wissend und nannte den Portopreis.

Die Reaktion der Postangestellten nahm die der meisten Verlage vorweg. Die Absageschreiben waren höfliche Textbausteine. In einem hatte man versehentlich sogar den Titel meines Romans nicht gegen das zuvor abgelehnte Manuskript eines anderen Autors getauscht. – Zufällig war damals in einem Magazin ein Bericht über große deutschsprachige Verlage erschienen. Die dort genannte durchschnittliche Zahl der unverlangt eingesandten Manuskripte machte es schlicht unmöglich, dass die hoffnungsvoll eingesandten Werke sämtlichst gelesen oder auch nur einmal quer gelesen wurden. Ich hatte damals zwischen die Seiten 20 und 21 einer jeden Manuskriptkopie ein Haar gelegt. In den Retouren war sämtlichst noch das Haar an der selben Stelle vorhanden. Die Manuskriptkopien tröpfelten nach und nach „als leider nicht in unser Programm passend“, „interessant, aber nicht der aktuellen Lesernachfrage entsprechend“ wieder bei mir ein, versehen mit der Versicherung, dass die Absage kein Werturteil sei und versehen mit den besten Wünschen für einen Erfolg bei einem anderen Verlag.

Lust am Schreiben? Hätte ich diese Erfahrung vorher gemacht, hätte ich vermutlich die Lust verloren und das Schreiben gelassen. Es wäre die falsche Entscheidung gewesen! – Jedem, dem es ähnlich geht, möchte ich an dieser Stelle Mut machen. Lassen Sie sich die Lust nicht nehmen! Machen Sie weiter! Der Kontakt zum Gmeiner Verlag war ein Glücksfall und der Beginn einer bis heute konstruktiven Zusammenarbeit. ‚Karrieresprung‛ wurde für den Glauser-Preis in der Sparte „Bestes Debüt“ nominiert und bildete den Auftakt einer Serie um den Rechtsanwalt Stephan Knobel und seine Marie. Jetzt war auch das Genre klar. ‚Karrieresprung‛ ist – wie die bisherigen Folgeromane ‚Todeserklärung‛ (2007), ‚Geldmarie‛ (2008), ‚Tribunal‛ (2010), ‚Endstadium‛ (2010), ‚Irrliebe‛ (2011), ‚Drahtzieher‛ (2012)‚Rasterfrau‛ (2013) und Gutachterland (2015) ein Roman, der in die – begrifflich ohnehin sehr weite – Sparte Krimi passt, aber eben sein Eigenleben pflegt. Ich benutze keine ausgetretenen Pfade und vermeide typische Personen- und Handlungskonstellationen. Ich liebe ungewöhnliche und facettenreiche Geschichten mit unvorhersehbaren Wendungen, mag die Geschichte hinter der Geschichte – und ich achte auf Sprache. Blutrünstige und vordergründige, auf Effekte ausgerichtete Stories berühren mich nicht, und deshalb schreibe ich sie auch nicht.

Mit dem im September 2018 erschienenen Roman "Der Zweifel" habe ich die Serie um den Rechtsanwalt Stephan Knobel fortgesetzt und zugleich Neuland betreten: Der Fall beruht in wesentlichen Teilen auf einer wahren Geschichte: Vor zwei Jahren hat Ivelina Kubilski ihre Tochter Emilia von Dortmund nach Bulgarien entführt. In Deutschland ist sie dafür rechtskräftig wegen Kindesentziehung verurteilt worden. Emilias Vater Pavel beauftragt Rechtsanwalt Stephan Knobel, auf juristischem Weg für die Rückführung des Kindes nach Deutschland zu sorgen, nachdem er seine Tochter zuvor erfolglos in Sofia gesucht hat. Pavel setzt wie Stephan Knobel sein volles Vertrauen in Justiz und Behörden. Der Kampf eines Vaters um sein Kind - welcher Anwalt und Mandanten an ihre Grenzen bringt.

'Der Zweifel' ist mein bisher persönlichstes Buch. In keinem anderen Roman bin ich der Figur des Anwalts Knobel näher als in diesem - und nie hat mich in der Realität ein Fall betroffener gemacht als dieser, der eine Kindesentziehung durch die Mutter, die behauptete Rechtfertigung dieser Tat und den verzweifelten Versuch des Vaters, seine Tochter zurück zu holen, unter den verschiedensten Aspekten beleuchtet und ein Rechtssystem ad absurdum führt. Zweifel und Verzweiflung können eng beieinander liegen - oder sich auch bedingen.

Schreiben macht mutiger. Das habe ich durch dieses Buch erfahren und gelernt, dass es mich auch in dieser Hinsicht reifer gemacht hat.

Warum ich Ihnen all dieses mitteile?

Ich danke Ihnen, liebe Leserinnen und liebe Leser, die sich immer zahlreicher meiner Bücher widmen, mir in Briefen, Emails und Lesungen begegnen und mich mit Ihrem Zuspruch und Ihrer Kritik weitertragen.

Und: Wer schreiben möchte, sollte es tun und den Schritt „nach draußen“ wagen! Es gibt unendlich viele Geschichten, die erzählenswert sind – und Menschen, die sich für diese Geschichten interessieren! Gehen Sie Ihrer Lust nach! - Schreiben ist - in des Wortes mehrfacher Bedeutung - sinnlich. Es tut einfach gut!